Ich stelle mein Rad an die Wand, hieve mich noch auf eine Bank und sacke in mich zusammen. Neben den Erinnerungen an den Elektrozaun in Form von Schnitten im Gesicht und am Oberarm, sowie weiterer Schrammen, die ich von zahlreichen Stürzen als Souvenir mitgenommen hatte, waren meine Fußsohlen von dauerhafter Feuchtigkeit komplett aufgeweicht - an Gehen war nicht zu denken. Aus meinen Zehen sowie Fingern wich immer mehr das Gefühl, meine Handballen bestanden aus reinen Blasen und mein Nacken ließ nur noch sehr eingeschränkte Bewegungen meines Kopfes zu. Ich war ein Wrack!
Getrieben von Ehrgeiz und Lust, den Balkan zu entdecken, befand ich mich trotz diesem körperlichen Zustand am Checkpoint 2 noch immer unter den ersten Fünf. Eine große Portion Nudeln, eine kühle Dusche, und die Crew vor Ort verhalfen mir jedoch zu einem klareren Kopf. Ich realisierte, dass ich in den letzten Stunden zu weit gegangen war und ich mich selbst bremsen musste. Es war ein Punkt erreicht, bei dem es um meine Gesundheit ging und der es nicht wert war, weiter überschritten zu werden. Ja - es war ein Rennen und ja - ich hatte mich tausende Kilometer darauf vorbereitet und viele Stunden in die Planung investiert. Aber - ich nahm zum ersten Mal an einem solchen Ultrarennen teil und musste mir nun eingestehen, dass ich ein zu sportliches und zu wenig komfortables Material für dieses Rennen ausgewählt hatte und nun mit den Konsequenzen umgehen musste.
Dass ich das Rennen beenden würde, stand außer Frage - auch wenn mein Körper und Verstand anderer Meinung waren. Von nun an sollte es einfach ein Balkanabenteuer sein und die Platzierung wollte ich außer Acht lassen. Was sich so leicht schreiben lässt, war ein harter Prozess, da ich währenddessen meinen Mitstreitern zusah, wie sie den Checkpoint erreichten und wieder verließen und ich Platz um Platz verlor. Auf Ratschlag der TransBalkan-Crew nahm ich mir eine Pause in dem Wissen, theoretisch 3 Tage am Checkpoint verweilen und selbst dann noch im Zeitlimit das Ziel erreichen zu können. Ich hielt es letztlich eine Nacht am Checkpoint aus und startete am nächsten Morgen wieder.
In der ersten Stunde hatte ich einen Kampf mit mir auszufechten, wie noch nie zuvor. Ich hielt alle 2 km an, fragte mich, was ich hier eigentlich tat, warum ich mich so quälte, um mich dann wieder zu zwingen, auf meinen wunden Hintern zu sitzen und weiter zu kurbeln. Es gab den einen Moment, an dem ich kurz meinen Gedanken nachgab, umdrehte, 5 Meter zurück in Richtung Checkpoint rollte, um dann die Bremse zu ziehen, mich anzupeitschen und meine Fahrt wieder in Richtung Kotor-Bay einzuschlagen. Erst als ich eine kleine Abfahrt hinter mich gebracht hatte huschte mir ein Grinsen über das Gesicht und mir wurde klar, dass ich diese Höhenmeter definitiv nicht wieder hinauffahren wollte und ich somit das Ziel des TransBalkanRace erreichen würde.
Erinnert ihr euch an die liebenswürdigen Hundebegegnungen? Auch bei der Wassersuche machte ich Bekanntschaft mit meinen zotteligen Freunden: In der Verzweiflung wird man mit der Zeit etwas dreist. So meinte ich einmal, mich nachts um drei in fremden Gärten bewegen und nach einem Wasserhahn Ausschau halten zu können - wären da nicht die Wachhunde gewesen, die plötzlich mit einem bösen Grummeln hinter mir standen …
Eine wunderschöne Passüberquerung wäre die des „Stog“ bei Einbruch der Dunkelheit gewesen. Was allerdings zunächst noch Genuss und Glücksgefühle in mir auslöste, wurde wenig später wieder zum K(r)ampf, da rabenschwarze Wolken aufzogen, Blitze über den Himmel zuckten und ich schnellstmöglich von diesem Höhenzug heruntermusste. Mein Nacken meldete sich natürlich wieder umgehend und forderte alle 500 m seine Erholungspause ein. Dass ein Körper sich so sehr verkrampfen kann, dass selbst das Bedienen der Bremshebel nach wenigen Metern zu Schwerstarbeit wird, hätte ich mir vor diesem Abenteuer niemals ausmalen können. Zu den körperlichen Anstrengungen wurde auch meine mentale Resilienz auf die Probe gestellt. Eine Passabfahrt, welche man normalerweise als Erholung und schnelle Kilometer verbucht, wurde hier zu einem mentalen Härtetest, da der Kilometerzähler auf meinem Fahrradcomputer kaum Fortschritte machte.
Längst vergessen, aber in Bosnien und Montenegro noch präsent: die Roaminggebühren. Da mein Tracker unzuverlässig funktionierte und mein Handyanbieter mein Konto wegen zu hoher Kosten sperrte, war ich nach kürzester Zeit auf W-Lan angewiesen, um ein Lebenszeichen von mir geben zu können. Während des Rennes war es unglaublich schön, das Interesse und den immensen Zuspruch von außen zu spüren. Es war mir auch wichtig mitzuteilen, wo ich war und wie es mir ging. Die Momente, in denen ich einen Gesprächspartner hatte, waren von immenser Bedeutung, um mein doch recht einsames Dasein aufzulockern und auch mal direkt mitteilen zu können, was ich gerade durchmachte. Aufgrund dessen saß ich eines Morgens an einem geschlossenen Hotel und tippte alle möglichen Varianten von erdenklichen Passwörtern ein, bis ich das W-Lan geknackt hatte und ein Lebenszeichen von mir geben konnte.
Eine Begebenheit rund um den Internetzugang beschreibt ziemlich gut, wie offen und freundlich die Menschen in Montenegro mir gegenüber waren: Ich saß vor einem Supermarkt und fragte den Angestellten, ob er ein Kennwort für eines der mir angezeigten W-LAN wisse. Er fragte mich, woher ich käme und tippte dann in den Google Übersetzer ein: „Hey Bruder, ich lass mein Handy hier!“ Er ließ daraufhin sein Handy mit eingeschaltetem Hotspot bei mir vor dem Laden liegen und ermöglichte mir so einen Internetzugang. Diese hilfsbereite und herzliche Art begegnete mir mehrmals. Das waren zwischenmenschliche Begegnungen, die ich in meiner ansonsten recht einsamen Zeit besonders zu schätzen wusste.
(Ich entschuldige mich, aber diese Anekdote muss sein)
Seit Stunden fuhr ich durch die Mittagshitze, weit entfernt von jeglicher Zivilisation und es überkam mich schlagartig das Bedürfnis, meine bis dato vermutlich 2,5 Kilo Riegel und etliche Sandwiches wieder loszuwerden. Da ich mich im absoluten Nirgendwo befand, seit Stunden keine Menschseele getroffen hatte und es zudem wirklich schnell gehen musste, wurde das Rad auf den Weg gelegt, das Trikot ausgezogen, die Träger der Hose abgestreift und das Werk vollbracht. Es kam, wie es kommen musste: Ich stand im besten Sonnenlicht splitterfasernackt in der Natur, als Alex um die Ecke bog und in seinem schweizerischen Dialekt breit grinsend ausrief: „Oh, das ist aber eine freizügige Angelegenheit!“ Ich winkte ihm fröhlich zu und wünschte ihm lachend eine gute Fahrt. Diese herrlich offenherzige Szene zauberte mir für die folgenden Kilometer ein Lachen ins Gesicht und sollte im Ziel von uns beiden des Öfteren noch zum Besten gegeben werden und für etliche Erheiterung sorgen.
Die Nacht verbrachte ich auf einer 30 cm breiten Bank unter freiem Himmel. Ich befand mich umgeben von hohen Wiesen und war froh um einen Platz, an dem ich vor Zecken sicher war. Nach 1,5 Stunden fand jedoch mein Schlaf ein jähes Ende, da der Himmel seine Schleusen öffnete und mich ein Gewitter überraschte. Ich sprang aus meinem Schlafsack, setzte meinen Helm mit der Lampe auf und packte hektisch bei starkem Regen meine Schlafutensilien ein. Letztlich saß ich um 1.30 Uhr wieder mit nassem Gepäck auf meinem Fahrrad und mir war völlig klar: In diese Sachen schlüpfst du nicht wieder rein. Du fährst so lange, bis du im Ziel bist. Auf meinem Wahoo Fahrradcomputer standen noch 205 km bis Kotor-Bay. 205 km sind im Trainingsalltag normalerweise ca. 6,5 h - beim TransBalkan hingegen legte ich an diesem Morgen in derselben Zeit 38 km zurück. Könnt ihr euch meine Stimmung vorstellen, als ich nass, übermüdet und schiebend 25- prozentige „Wege“ bewältigen durfte und nach 6,5 h eine Hochrechnung anstellte, wann ich bei diesem Tempo das Ziel erreichen würde? - Da kamen natürlich nur Glücksgefühle in mir hoch.
Auf jedes Tief folgt ein Hoch: Die Sonne geht auf und mein Körper, sowie meine Augen, wurden für die vorangegangenen zähen Stunden belohnt. Es folgte ein Abschnitt auf einer geteerten Straße durch den Durmitor Nationalpark. Mein Nacken entspannte sich, ich konnte das erste Mal seit langem wieder ein längeres Teilstück ohne Pausen zurücklegen und zudem bewegte ich mich auf einem einmalig schönen Höhenweg mit eindrucksvollen Ausblicken. Für die Moral war dieser Moment ganz wichtig, da das Ziel, am Abend in Kotor anzukommen, doch wieder realistisch wurde.
Ich erlebte ein weiteres Beispiel berührender Gastfreundschaft, ein Kontrasterlebnis zu unserem mitteleuropäischen Lebensstandard und einen Wetterumschwung der Extreme. Auf der Hochebene zwischen Podosoje und Niksic fiel das Thermometer von über 40 auf 5 Grad und ich fand mich in einem heftigen Gewitter wieder.
Durch den vorsichtigen Hinweis von Daheim, dass ich trotz Ausstieg aus dem „Rennmodus“ Zeit auf die vor mir Fahrenden gut machen würde, kam mein Ehrgeiz zurück und ich war schnell wieder im Tunnel des Wettkampfs. Ich kurbelte und rannte in strömendem Regen. Angetrieben vom Donnergrollen und flankiert von Blitzen stürmte ich den Anstieg hinauf, als gäbe es kein Morgen mehr. Die „Wege“ waren nur noch Sturzbäche, meine Schuhe waren vollgesaugte Schwämme und jedes Kleidungsstück, das ich dabei hatte, trug ich an meinem Körper. Den wilden Hunden trat ich mit Entschlossenheit und meinem Urschrei sicherer denn je entgegen und so komisch es klingen mag: Die Situation bereitete mir trotz der Wetterumstände mächtig Freude und ließ mich meine Schmerzen vergessen.
Als ich gerade auf die zwei Italiener vor mir aufgefahren war, ging wie aus dem Nichts an einer ärmlichen Hütte mit Blechdach einladend die Türe auf. Ich war kurz hin und hergerissen, da ich gerade so glücklich war, auch wenn es bei diesen Wetterverhältnissen für Außenstehende schwer nachzuvollziehen ist. Ich besann mich aber dann auf meinen gefassten Beschluss, die Vernunft walten zu lassen und nahm den Unterschlupf gemeinsam mit den beiden Italienern dankend an. Was im Inneren der Hütte zum Vorschein kam, hatte ich nicht erwartet: unverputzte Wände, ein abgenütztes Sofa und keine Elektrizität. Geheizt und gekocht wurde mit einem Holzofen und das Kleinkind spielte mit einer Küchenreibe und einem Schneidebrett auf dem Boden. Wir drei dagegen in unserer Funktionskleidung und mit High-Tech-Fahrrädern wirkten wie von einem anderen Planeten. Es trafen definitiv zwei Welten aufeinander, die mit Hilfe des Google Übersetzers bei Keksen und Kaffee das wild tobende Wetter draußen vergessen machten. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden beide Seiten diese spannende, einmalige und warmherzige Begegnung noch lange in Erinnerung behalten.
Nach einem wirklich widrigen Abschnitt, den wir gemeinsam über die Hochebene durch Sturm und Regen meisterten, musste ich den beiden Italiener verzweifelt nachschauen, wie sie mit ihren Mountainbikes die Abfahrt hinunter rauschten und ich immer wieder gezwungenermaßen anzuhalten hatte, um meinen Nacken zu strecken. Meine einzige Möglichkeit, Zeit gutzumachen, war ein ganz kurzer Stopp in Niksic. Ich griff in das Schokoriegelregal, packte so viel an Süßem ein, wie ich fassen konnte, schüttete zwei kalte Kaffees in meinen Rachen und sprang wieder auf mein Rad. Es waren noch 70 km bis zur Bucht. Aus der Stadt hinaus folgte unsere Strecke einer Teerstraße und ich sah die Beiden wieder vor mir. Freundlich grüßend fuhr ich an ihnen vorbei und spielte bei diesen Verhältnissen die Stärken meines Open U.P. aus. Dass es nun wirklich um die Plätze ging, war daran zu merken, dass ich kurze Zeit später wieder überholt wurde und sie ein (zu) hohes Tempo auf ihren MTBs anschlugen. Kurz war ich beeindruckt, doch sie ließen nach, ich schloss die aufgegangene Lücke und verschwand aus ihrem Blickfeld. Ich grinste und hoffte inständig, dass es doch nun einfach vollends gut laufen würde. Der kurze Höhenflug sollte auf einer alten Bahnlinie jedoch ein bitteres Ende finden: Grobe Steine verpassten meinem Körper zu starke Schläge und ich musste meinen Schmerzen wieder nachgeben und Pausen einlegen. Nach dem 5. Stopp fuhren sie dann wieder an mir vorbei. Ich war in diesem Moment - natürlich auch meiner Übermüdung geschuldet - kurz vor dem Weinen. Dass die Beine bei Kräften waren, jedoch der restliche Körper streikte, war zum Verzweifeln.
Ich bog um einen Bergvorsprung und vor mir lag das Lichtermeer der Kotor-Bay. Die Straßenlaternen der Ortschaften entlang der Bucht spiegelten sich in den seichten Wellen des Meeres. Eine geteerte und autofreie Serpentinenstraße sollte von hier 14,5 km bergab ins Ziel führen - es machten sich kurzzeitige Glücksgefühle in mir breit. Kurzzeitig, da ihr euch kaum vorstellen könnt, wie lange eine solch eigentlich herrliche Abfahrt wird, wenn man alle 500 m anzuhalten hat. Die sich schon im Ziel befindenden Teilnehmer erzählten mir später, dass sie sich begannen Sorgen zu machen, da sie mein Licht von der Bucht aus in den Serpentinen beobachteten und sich fragten, wie man für diese Abfahrt so lange brauchen konnte… ja, unvorstellbar!
23.30 Uhr. Ich bog links in die Promenade ein und wurde mit Jubel und Beifall empfangen! Ich bekam Gänsehaut, war den Tränen nahe und hatte es geschafft! Welche Emotionen das Erreichen der Ziellinie auslöste, ist unmöglich mit Worten zu beschreiben. Das Bild der Umarmung mit Sebastian Sarx unmittelbar nach der Ankunft spricht dafür Bände.
Der Austausch im Ziel unter uns Fahrern war, wie ich es mir vorgestellt hatte: Bei feinstem Burek aller Arten und viel Cevapcici wurde das Erlebte erzählt, wurde sich ausgetauscht über Herangehensweisen und Vorbereitungen, sowie technische Kniffe am Rad offengelegt. Darüber hinaus badeten wir zusammen im Meer und teilten das Wohlgefühl, nicht wieder in den Fahrradsattel zu müssen.
Das TBR war für den Einstieg in die Ultraszene ein heftiger Start mit einem definitiv nicht ganz dafür geeigneten Fahrrad. Der drittplatzierte Floris meinte in seinem Zielinterview, dass er es nicht für möglich halten würde, mit einem Gravelrad dieses Rennen zu beenden - tja…
In meinem nächsten Blog werde ich euch noch einen Einblick in die körperlichen Folgen geben, die mich in meinen Alltag noch immer begleiten und meinen Blick auf „Badlands“ richten, das Rennen durch die Wüste Spaniens, dem ich inzwischen schon entgegenfiebere.
Bis in einem Monat!
Gruß Ben
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